Strange Kiss – Eine emotionale Bestandsaufnahme zur Lage der Welt
Am 7. Januar 2015 wird die westeuropäische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Der Anschlag auf das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift ‚Charlie Hebdo’ bringt den Terror auf einen Schlag direkt in unsere gesellschaftliche Mitte. Mit brachialer Macht wird er Teil unserer Realität. Was wir sonst von Fernsehbildern kennen, passiert plötzlich vor der eigenen Haustür und führt vor Augen, wie verletzlich der sicher geglaubte Alltag ist. Was nach diesem unheilvollen Tag zurückbleibt ist ein neuer Zeitgeist, der sich in einem dumpfen Unbehagen äußert. Dieses undefinierbare, seltsam ‚strange’ Gefühl betrifft uns alle, schlängelt sich durch unsere Gedanken, ohne dass wir seiner konkret habhaft werden könnten.
In den Bildern von Rouli Lecatsa wird diesem Unbehagen ein Gesicht verliehen. Das Werk ‚Strange Kiss’ ist als unmittelbare Reaktion der Künstlerin auf die Ereignisse von ‚Charlie Hebdo’ entstanden. Es versucht das neue Gefühl zu visualisieren, bildlich zu erfassen. Eine graue, undefinierbare Masse streckt bedrohlich ihre Ausläufer in Richtung einer menschlichen Figur aus. Ihr voraus eilt eine blaue, deformierte Gestalt. Dadurch, dass beide Figuren als Brustporträt wiedergegeben sind, wird der Fokus zoomartig auf die Mimik gelegt und die Situation bekommt eine enorme Eindringlichkeit. Ebenso verstärkt der trostlose, matschig braune Hintergrund die Tristheit der Szene. Der Titel veranschaulicht die „zwangsläufige Betroffenheit“ eines jeden Betrachters. ‚Strange’, befremdlich, absurd sind die Ereignisse, der Begriff ‚kiss’ verdeutlicht die Nähe, die sie zu jedem von uns haben.
Dennoch haben wir es hier nicht mit politischen Arbeiten zu tun. Vielmehr handelt es sich um emotionale Bestandsaufnahmen einer Gesellschaft, in der der Terror, aber auch Phänomene wie die neu etablierten Begriffe ‚Hate Speech’, ‚Alternative Facts’ oder ‚Lügenpresse’ einen grundlegenden Strukturwandel erzeugen. Rouli Lecatsa fertigt Bilder, in denen sie auf gefühlvolle, für den Betrachter sinnlich erfahrbare Art und Weise die Konsequenzen dieses Wandels zeigt. Denn in letzter Instanz ist es die Menschlichkeit, die momentan auf eine harte Probe gestellt wird. Welche Auswirkungen hat die Angst vor dem Terror auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen? Wie sehr entfremdet uns die Angst? Und vor allem: Welche Auswirkungen hat die neue, medienbedingte Anonymität, die zur Folge hat, dass Diskurse nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, sondern in absoluter Distanz im Internet ausgetragen werden?
Die Arbeiten der Künstlerin stellen Gegenbilder dieser Entwicklungen dar. Seit über 20 Jahren bringt sie innere Bilder auf die Leinwand. Insbesondere die Gattung der Malerei zeichnet sich durch eine sinnliche Qualität aus: Der Umgang mit der Farbe, aus welcher sich das Bild in einem langwierigen Prozess formt, die intensive Auseinandersetzung mit dem Motiv, dass auf der Leinwand Gestalt annimmt und nicht durch Realismus, sondern durch die Emotionen der Künstlerin motiviert ist. Die Malerei bringt uns die Themen auf einer gänzlich anderen Ebene nahe, als dies Fotografie und mediale Berichterstattung vermögen. Und erhebt im Falle von Rouli Lecatsa nicht den Anspruch der Objektivität, sondern zeichnet sich gerade durch die subjektive Wahrnehmung aus, die möglicherweise im Betrachter einen Wiederhall findet. Denn Rouli Lecatsa geht es nicht um laute Kritik oder einen moralischen Fingerzeig. Vielmehr sind ihre Arbeiten nachdenkliche Reflexionen ihrer Beobachtungen.
Die Zäsur, die ‚Charlie Hebdo’ gesetzt hat, mag dies noch einmal verstärkt haben, im Oeuvre der Künstlerin lässt sich ein kritischer Blick jedoch auch in vielen früheren Arbeiten finden. In ‚Storm of Protest’ aus dem Jahr 2014 bannt sie die Dynamik und Bewegung eines nicht materiellen Protestes. Vielmehr ist diese Gegenwehr eine abstrakte Größe, eine Idee, die durch die Verbildlichung eine neue Kraft bekommt. Denn was wir sehen ist oft einprägsamer und vor allem unmittelbarer, als das, worüber wir nur sprechen.
Unmittelbar ist auch der Schaffensprozess von Rouli Lecatsa. Sie transferiert die Direktheit der Zeichnung in ihre Malerei und betont so den spontanen, dringlichen Augenblick, in welchem der Gedanke, die ‚idea’, eingefangen und auf das Papier gebracht wird. Besonders deutlich kommt dies zum Beispiel in den leichten, locker auf das Papier geworfenen Linien des Bildes ‚H+R’ von 1992 zum Ausdruck. In den neueren Arbeiten bleibt dieser zeichnerische Aspekt gewahrt, die Offenheit der Formen weicht jedoch zunehmend geschlossenen Kompositionen. In ‚Und immer (noch) lockt das…’ von 2015 sind die Umrisse zunehmend organisch und die Figuren zugunsten der inhaltlichen Aussage stilisiert. In ‚Figuren’, ebenfalls von 2015, entstehen die beiden Personen aus einer gemeinsamen Grundform heraus, sind ineinandergefügt, vereinfacht – ein Körperwesen, nicht wirklich menschlich und doch enorm ausdrucksstark. Vergleichbar sind diese deformierten, emotionsgeladenen Gestalten möglicherweise mit den Körperbildern einer Maria Lassnig, der es ebenfalls nicht im eigentlichen Sinne um die Figur, sondern vielmehr um den Ausdruck geht.
Trotz der emotionalen Aufladung ist gerade den neueren Arbeiten durch eben jene Reduzierung der Form eine neue Leichtigkeit zu eigen, die mit einer subversiven bis offensichtlichen inhaltlichen Ironie einhergeht. Diese Ironie trägt maßgeblich zur Kommunikation der Bilder bei. Sie lässt uns als Rezipienten das Dargestellte differenzierter Betrachten und stellt gleichzeitig eine Kommunikationsebene dar, die einen größeren und oftmals unterbewussten Wirkungsgrad hat, als eine rein rationale Darstellung.
Eine weitere bedeutende formale Komponente ist Rouli Lecatsas Arbeit mit Farbflächen. Meist ‚malt’ sie mit dem Spachtel, sodass die Bilder auf zweierlei Weise flächig wirken. Durch die Benutzung des Spachtels ist bereits der Farbauftrag oft ein Zusammenspiel vieler einzelner kleiner Flächen. In zweiter Instanz arbeitet sie in der Komposition mit farbigen Bereichen, die sie gegeneinandersetzt. So bestehen die Bildgegenstände nicht aus plastischen Körpern, sondern sind aus Flächen aufgebaut, was ein charakteristisches Raumgefüge generiert. Fast scheint die dargestellte Szene fragmentiert, die bildimmanente Realität prismatisch in viele einzelne Bruchstücke aufgegliedert. Besonders eindrucksvolle Räume entstehen dabei in Bildern wie ‚Landscape’ von 2004 oder den architektonisch versierten Arbeiten wie ‚Dissonanz’ von 2014.
In den einzelnen Farbflächen steht jeweils der Eigenwert der Farbe im Vordergrund. In der Kombination ergeben sich intensive Farbstimmungen. Selbst gänzlich abstrakte Arbeiten wie ‚Red Space’ von 2013 gehen dem Betrachter unter die Haut. Die Rottöne – von Purpurrot, Hellrot, Blutrot über Schwarzrot, evozieren unmittelbar Gefühle und Assoziationen. Barnett Newmann, Hauptvertreter des abstrakten Expressionismus, fragte 1966 in einem Bildtitel: “Who is afraid of Red, Yellow and Blue“? „Ich!“ möchte man als Betrachter im Angesicht einer solchen Farbwucht rufen, wie sie von Rouli Lecatsas rotem Farbraum ausgeht. Und genau in diesem Moment haben die Bilder ihr Ziel erreicht: Sie haben dem Unbehagen eine Form verliehen, sei sie noch so abstrakt, und geben uns dadurch die Möglichkeit, dem ‚strangen’, befremdlichen Gefühl dieses neuen Zeitgeistes ins Auge zu blicken.
Das Werk ‚Imbalance – der Zustand des Seins aus dem Gleichgewicht’ von 2015 schließt den Kreis, den ‚Strange Kiss’ begonnen hat. Im besten Sinne einer Allegorie verkörpern hier zwei Figuren, von welchen die eine die andere in einem alarmierend fragilen Gleichgewicht hält, die momentane gesellschaftliche Instabilität – die Welt befindet sich aktuell in einem Schwebezustand und es betrifft letztlich uns alle mitzuentscheiden, in welche Richtung die Waage kippen wird.
Anne Simone Krüger, Kunsthistorikerin M.A.