L O A D I N G

Ein Jahr Corona…wie lange noch?

Athen, 10. März – 7. April 2020

10. März

Ich lande in Athen einen Tag bevor die offizielle 14-tägige Quarantäne wegen Corvid-19 verordnet wird. Dennoch ziehe ich mich freiwillig in eine Unterkunft im Zentrum zurück. Die kranke Mutter sollte nicht gefährdet werden.

11. März

Das Büro Apartment ist umfunktioniert zum Wohn-Loft für Airbnb. Liegt nahe am Syntagma Platz, gegenüber vom alten Parlament. Eine gute Location, aber fremde Zustände: Ungewohnt leere Straßen, einige gelbe Taxis fahren vorbei, seltener Pkws. Ein Streifenwagen ist vor dem Luxus Juwelier an der Ecke stationiert, Zufall?

12. März

Vom 5. Stock des Gebäudes blicke ich auf das Parlamentsgebäude mit einem von vier Säulen getragenen Vorbau. Den riesigen Portikus erreicht man über die typisch breite marmorne „Volkstreppe“. Dieser Eingang an der Nebenstraße scheint abgesperrt zu sein. Nur die drei obdachlosen Männer, die sich hier eingerichtet haben, wissen den Schutz der klassizistischen Architektur zu würdigen. Ich hörte, die Stadt hat den Obdachlosen zum Schutz vor einer Corona Infektion Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Scheinbar lässt die Polizei einige Ausnahmen zu. Sind diese drei Männer mögliche Virus-Träger? Wie kommen sie zurecht?

13. März

Jeden Morgen gehe ich ans Fenster und schaue nach Ihnen, jeden Abend auch, bevor ich mich hinlege. Ich möchte wissen, ob sie noch da unten verweilen; sie sind die einzigen lebendigen Wesen rundum. Meine einzige Konstante. Ich, oben in der Wärme, sie da unten und draußen. Es ist kalt im März.

14. März

Das Bürogebäude ist definitiv menschenleer. Ich gelange zum Bürotrakt durch eine kleine Ladenpassage. Diese wird durch ein eisernes Tor nachts von der Straße abgeriegelt. Die Vitrinen sind perfekt dekoriert, die Läden leer. Es sieht aus, als hätte man die Menschen vor einigen Stunden evakuiert. Das Tor lässt sich mit einer Fernbedienung öffnen. Auf dem Tresen der Pförtnerloge im Eingangsbereich liegen Haufen von Briefen und Zeitschriften. Einige sind auf dem Boden heruntergerutscht. Eine schrille Frauenstimme verkündet im Aufzug: „5. Stock“. Hier steige ich immer aus. Ich eile zu meiner Eingangstür. Die Leere innerhalb des Gebäudes ist physisch wahrnehmbar. Dies verunsichert mich. Ich komme mir vor wie ein Illegaler Eindringling, wie eine Geflüchtete, jedenfalls wie ein Fremdkörper. Was habe ich hier zu suchen?

15. März.

Ich soll mich verhalten wie eine Infizierte in spe, obwohl ich gesund bin. „Wir bleiben zu Hause – um die Anderen zu schützen“, empfiehlt wiederholt ein Mann im staatlichen Corona Video im Fernsehen. Abstrakte Statistiken und Zahlen werden täglich übermittelt über NeuInfizierte und Neu-Tote. Erschreckend abstrakt kommen mir diese Zahlen vor, vor allem die Zahlen aus Italien. „Es ist ein kleiner Spaziergang für Euch“ sagt meine Mailänder Freundin.

„Bei uns werden inzwischen die Corona Toten verbrannt. Es gibt keinen Platz mehr auf den Friedhöfen. Es ist ein Krieg, wir fühlen uns alleine gelassen von Europa.“ Sie, … lebt. Ich lasse mich mit Bier volllaufen.

16. März

… inzwischen habe ich einige Grundnahrungsmittel, Obst und Konserven eingekauft. Endlich konnte ich einen mobilen Internet Anschluss organisieren. Ich schaffe es sogar, in der einzigen flachen Pfanne Nudeln zu kochen.

17. März

Über die volle Breite des Raumes erstreckt sich ein horizontales Fenster mit Panorama Blick über die Dächer Athens. Es ist ein Gewirr von Linien und Kanten in verschiedenen Richtungen. Man ist umlagert von Beton, von verwitterten Fassaden, verwahrlosten Terrassen mit spärlichem Grün. Es sind die Endetagen der Bürogebäude im Zentrum … eine seltene Stadtansicht. Sie bilden eine zweite Ebene der Stadt, hier oben. In der Nacht bemerkt man, dass dort einige Leuchtreklamen angebracht sind. Könnte ich in dieser Stadt leben? Ohne Menschen und Autos bleibt eine nackte graue Betonhülle zurück. Es ist unwirtlich.

18. März

Die Obdachlosen verbringen meist den Tag schlafend oder liegend in Ihren improvisierten Gemächern.… Ich liege auch oft im Bett. Die Farbe Weiß dominiert hier: Weiß sind die Bettlacken, Decken, Regale, Sofas, der Boden … alles hell und hellhörig. Wenn ich nachts hier liege, bin ich sehr angespannt. Es ist eine körperliche Reaktion auf die siebenstöckige Leere und Härte des Stahlbetonbaus. Meistens wird es spät, sehr spät, bis ich einschlafe. Ab und zu geht in einem Büro ein Alarm los, keiner scheint sich daran zu stören. Öfters hört man nachts die Sirenen der Krankenwagen…. irgendwas passiert irgendwo… Ich liege hier regungslos, wie paralysiert. Ich lausche nach irgendwelchen Geräuschen im Treppenhaus. Ich zucke zusammen, wenn ich sie nicht identifizieren kann. Die Alarmanlage habe ich abgeschaltet, sie ist überflüssig. Irgendwann schlafe ich aus Erschöpfung ein.

19. März

….irgendwann stehe ich morgens auf. Ist es Mittag oder ist es schon Nachmittag? In meinem freiwilligen Exil fühlt es sich an wie ein Realitätsverlust. Den inzwischen national verordneten Lockdown verbringen die meisten in ihrem vertrauten Heim, öfters sind sie mit home work beschäftigt. Oder man ordnet halt Schränke und Schubladen, erledigt offenen Schriftverkehr, probiert neue Kochrezepte für die Family. Ich bin es zwar gewohnt alleine zu leben, aber dieses hier fühlt sich anders an, wie: „Lost in Translation“.

20.März

Heute roch es im Aufzug nach Zigarren. Aus Angst vor schädlichen Aerosolen in der Kabine laufe ich zu Fuß nach unten. Das Licht geht oft im Flur aus. Es wird stockdunkel. Etagenweise komme ich an den Büros und Agenturen vorbei, die hier ansässig sind. Haben hier wirkliche Menschen früher gearbeitet? Gehört das Haus vielleicht dem unsichtbaren Zigarrenmann? Diese leblose Büro-Kulisse, in der er mich als eine lebendige Requisite braucht?

21. März

Ich gehe ein paar Schritte auf der Straße an den Obdachlosen vorbei. Ich bringe den Müll weg. Dann kehre ich wieder zurück. Von meiner Existenz in dieser Gegend wissen nur diese drei Männer. Es ist der 11. Tag meiner Quarantäne. Allmählich denke ich, ich hatte Glück und habe die Reise gut überstanden. Aber das was ich hier erlebe? Wie lange könnte ich es noch aushalten? Wie lange könnte ich es in einem Gefängnis aushalten? Da gibt es ja zumindest noch die anderen Gefangenen und einen organisierten Alltag mit Mittag und Abendessen. Was weiß ich denn von Parallelwelten? Ist mein Leben in Freiheit ein Luxus und war es nur ein glücklicher Zufall bislang?

22. März

… meine Ohren laufen rot an und werden so heiß vom unendlichen Telefonieren …, die wichtigste Beschäftigung des Tages, sie ist immerhin keimfrei. Jetzt habe ich eine Ahnung, wie sich das Eingesperrt Sein anfühlt. Ich schütte mein Bier herunter. Das neue Virus hat alles andere Elend in den Fernsehberichten verdrängt. Es ist die erste Nachricht in der ganzen pandemischen Welt. Klein, unscheinbar, dennoch unbezwingbar. Es folgen Bilder mit unendlich vielen Särgen, die im Vorhof einer Kirche aufgereiht sind. Die Kommentare darüber sind knapp. Sie wiederholen sich, wie ein Endlosband. Es betrifft jeden von uns. Auch Präsidenten werden infiziert.

23. März

Wie sollen wir uns schützen vor der Infektion? Das Halbwissen fördert ein zwanghaftes Verhalten. Man soll die Hände jede Stunde waschen und mindestens viermal täglich sein Handy desinfizieren. Die Tochter einer Freundin putzt jeden Tag eine Stunde lang ihr Mobiltelefon. Sie traut sich nicht mehr auf die Straße. Ich komme mir vor wie die Protagonistin in einem Slapstick Film. Vor dem Eintreten in die Wohnung ziehe ich die Schuhe aus, Mantel, Schal, alles was mit Außen in Berührung kam, wird sofort entfernt. Es soll aufgehängt, „neutralisiert“ werden. Mit bemühter Anmut bediene ich Lichtschalter und Türdrücker mit dem Ellenbogen. Endlich im Badezimmer angekommen werden die Hände mit warmem Wasser und Arztseife 30 Sekunden lang geschrubbt. Man soll dazu „Happy Birthday“ singen.

Auch den gesamten Einkauf soll man desinfizieren: Äpfel, Bananen sogar Weintrauben sollen vor dem Verzehr mit Seife gewaschen werden. Alles Verpackte wird entpackt, die Gehäuse desinfiziert mit verdünntem „Detol“. Konserven, Joghurtbecher, die Papierverpackung der Milchtüten, alles wird abgespritzt. … meine Freundin wäscht die Plastiktüten und hängt sie auf. Außerdem desinfiziert sie die Schuhsohlen mit Klorix, Empfehlung der Schwerster, sie ist Apothekerin.

24.März

Das … mache ich aber NICHT!!! – habe ich noch alle Tassen im Schrank? Bislang sollte man Desinfektionsmittel sehr vorsichtig anwenden. Jetzt ist es zum begehrten Überlebensmittel mutiert. In Deutschland war es mehrere Wochen lang ausverkauft! Das griechische Militär konnte jedoch ein paar Tonnen davon produzieren und die Bürger ausreichend damit versorgen.

25. März

Ich komme mir gelinde gesagt „strange“ vor. Einige Tage davor, war ich eine selbstbewusste Akademikerin, und jetzt? Wer bin ich denn hier und jetzt? Letztendlich erweisen sich diese Gesundheits-Vorkehrungen als eine große Hilfe, sich die Zeit zu vertreiben. Denn es dauert ewig, bis man all diese seltsamen Aktionen ausgeführt hat. Das Schlimmste dabei ist: man muss alles wiederholen, und zwar akribisch. Das Haus verlassen darf man nur aus sechs erlaubten Gründen: Arzt-, Bankbesuch, Einkauf, Pflege von Angehörigen, kurze sportliche Betätigung, Spaziergang mit Haustier. Die Athener scheinen sich für den nächsten Marathonlauf zu vorbereiten, schrieb ein Journalist. Auch tierlieb seien sie alle geworden.

Lieber lasse ich mir alles bringen. Ich bleibe in meinen vier Wänden.

25. März

Alle Flüge nach Deutschland sind gestrichen. Jetzt sitze ich hier fest. Immerhin ist der 14.Tag vorbei. Ich darf jetzt jemanden treffen; der erste Mensch, den ich treffe, eine Freundin von hier. Es tut so gut. Die ganze innere Anspannung kommt wie ein Schluchzen in mir hoch. Zurück in meiner weißen Unterkunft muss ich weinen. Irgendwas hat sich in mir verschoben. ICH MUSS HIER WEG!!

26. März

Meine einzigen Nachbarn, die Obdachlosen scheinen heute früh ihre Schlafstelle verlassen zu haben. Ein paar alte Zeitungen, leere Plastikflaschen liegen herum. Tauben picken die Essensreste auf, was für ein Anblick.

27. März

Ich bin in der Passage und öffne das ächzende Tor. Dort sind sie, alle drei. Sie liegen jetzt neben dem Eingang zur Passage, vor dem geschlossenen Café. Der Vorsprung des Gebäudes bildet dort eine Nische. Erst jetzt schauen wir uns aus der Nähe an. Einer ist jünger, gutaussehend. Der zweite ein älterer Mann, Mitte 60, mit weißen Locken und freundlichem, müdem Blick. „Madame, es hat gestern geregnet … wir mussten hierhin umziehen. Hier ist es ist trocken“ rechtfertigt er sich. Der Dritte, ist ein abgemagerter junger Mann mit verdreckten Klamotten. Sein Blick huscht hin und her, als müsste er in der nächsten Minute fliehen, sich verstecken. Trotz meiner Verwirrung schaffe ich es, freundlich zu lächeln. Das Tor, die drei Männer und Ich. Der Delivery-Mann ist inzwischen da, mit Maske und Handschuhen und mit fünf vollen Einkaufstüten. Eine Tüte lasse ich vor ihren Füssen liegen. Ich gehe rein, sie bleiben draußen. Ein unbehagliches Gefühl.

28. März

Am nächsten Morgen öffne ich wieder von Innen das Tor. „Guten Tag“ – ich gehe auf die andere Straßenseite und warte, bis das Tor herunterfährt und den Eingang zur Passage versperrt. Sie liegen in ihren „Betten“, einen Meter entfernt von mir. Sie schauen mich alle drei still an. Habe ich sie geweckt? Die gleiche Zeremonie wiederholt sich, als ich zurückkomme. Die Minuten, die dieses alte eiserne Ungetüm von Tor braucht, um sich zu bewegen, kommen mir wie eine Ewigkeit vor. Ein stummer Vorwurf schwebt in der Luft.

29. März

Mutter geht es inzwischen besser.

30.März

Ich stelle mehrere Wasserflaschen, Früchte und Konserven neben das Lager der drei Männer. Nur der jüngere Mann ist heute da. Er greift nach einer Thunfischkonserve und wendet sich stumm ab. Ich sage „Adio“, aber er schaut schon wieder in die andere Richtung. Ich steige ins Taxi ein. Der Fahrer trägt eine schwarze Maske, wie ein Bankräuber.

Heute fliege ich nach Hamburg zurück, der einzig mögliche Gabelflug geht über Zürich. Es ist der 7. April 2020.

Rouli Lecatsa, Hamburg 18. Juni 2020